Umsiedler
"… Die ehemals 100 000 Einwohner zählende Stadt Plauen wurde durch die Bombardierung zu 75 bis 80 Prozent zerstört. Zahlreiche Einwohner suchten in der Umgebung, in den umliegenden Dörfern Unterkunft – so in Straßberg, dazu große Trecks von Umsiedlern aus den Ostgebieten und aus der ČSSR. So stieg die normale Einwohnerzahl von Straßberg von einst 700 auf 1500 Personen an. Das Anbau- und Ablieferungssoll von Feld und Stall, kontrolliert durch die Sowjetische Militärkommandatur, sicherte die Ernährung. Für 800 Personen mussten im Ort Zimmer nachgewiesen, Öfen, wie auch Feuerung beschafft werden. Möbel und Hausrat wurden im Ort durch Solidaritätsspenden aufgebracht, mit einem Pferdegespann gesammelt und durch einen Ortsausschuss verteilt. Auch die Turnhalle wurde zu dieser Zeit Notunterkunft für Umsiedler und Ausgebrannte. …"[1]
Walter Ballhause schrieb im Amt als Bürgermeister einen Aufruf an die Gemeinde Straßberg: Seit vielen Wochen war unserer Gemeinde bekannt, was sie noch an Umsiedlern aufzunehmen hat. Die Gemeindeausschüsse hatten dementsprechend ihre Arbeit aufgenommen. Noch unterbelegter Wohnraum wurde erfasst bzw. Wohnungstausche wurden, soweit sie notwendig waren, vorgenommen. Der Ortsausschuss der Volkssolidarität führte zu gleicher Zeit zum wiederholten Male eine Sachspendensammlung durch. Die Gebefreudigkeit war sehr unterschiedlich, es konnte nur das notwendigste an Mobiliar, wie Bettgestelle, Tische und Stühle bereitgestellt werden. Außerdem wurde Wäsche und Kleidung gespendet.
Nun ist ein Teil der Umsiedler angekommen. Diese wurden am gleichen Tage in die vorbereiteten Quartiere eingewiesen. Bei einem Rundgang drei Tage nach Ankunft der Umsiedler stellten wir fest, dass diese sich den Verhältnissen entsprechend eingerichtet hatten und wir nahmen Gelegenheit, einige in Bildern festzuhalten, um denen, die noch alles besitzen oder nur wenig verloren haben, vor Augen zu führen, was den neu angekommenen Umsiedlern alles fehlt. Noch steht das Leid und die Not auf ihren Gesichtern und wir wollen versuchen, durch verständnisvolles Entgegenkommen ihnen ihr hartes Los etwas zu erleichtern.
Durch die allgemeine Notlage blicken wir viel zu sehr auf unser eigenes Ich und übersehen dabei die erschütternde Not dieser Menschen. Gehen wir einmal zu ihnen und sehen wir selbst, womit wir ihnen helfen können. Kaum eine Gardine ziert das Fenster, eine Kiste dient als Küchenschrank, die Koffer werden als Wäscheschrank benutzt, Kleider werden am Nagel an der Wand aufgehängt, statt einer Tischdecke liegt ein Geschirrtuch auf dem Tisch, die Wände sind kahl, die Herdfrage ist überall ein Problem und doch sind diese Menschen dankbar und froh, nun endlich wieder ein zu Hause gefunden zu haben. Sieben Monate waren sie im Lager auf engstem Raum zusammengedrängt, wo die Frauen nicht einmal waschen konnten und teilweise bei der strengen Kälte unter freiem Himmel gekocht werden musste. Nun kommen sie langsam zur Ruhe und ein neues Leben fängt an. Ein Buch wird wieder zur Hand genommen, ein paar Blumen auf den Tisch gestellt. Im Gespräch mit ihnen zeigen sie uns Bilder ihrer verlassenen Heimat und ihre Augen füllen sich mit Tränen. Fragen beschäftigen sie: „Sollen wir die ganze Schuld allein tragen, werden wir jemals wieder in unsere Heimat zurückkehren?" Es ist klar, dass die erste Frage von uns selbst gelöst werden kann und muss, darum: hab ein Herz und gib, was du irgendwie entbehren kannst. Die letztere Frage ist eine politische Frage, bei der wir nur eines in die Waagschale der künftigen Gestaltung der Grenzen Deutschlands zu werfen haben, nämlich, durch Demokratisierung den überfallenen Völkern die Garantie zu geben, dass Deutschland nicht ein drittes Mal die ganze Welt in Brand steckt.
Die nächste Aufgabe der Gemeindeausschüsse wird es sein, den neuangekommenen Umsiedlern ein Stück Gartenland zuzuweisen, was ihnen neben der Erzeugung zusätzlicher Ernährung noch das Gefühl der Ansässigkeit geben soll. Die Gemeindeausschüsse werden sich auch weiterhin ihrer annehmen, damit ihnen ihr jetziger Wohnsitz zur Heimat werde. Mai 1947
1. Walter Ballhause 1987, in: Interview mit Ernst-Michael Stiegler, auszugsweise erschienen in: Niedersachsen 6/87, S. 296 ff.